Johannes, das Buch verschlingend

"Und ich sah einen anderen starken Engel vom Himmel herabkommen, der war mit einer Wolke bekleidet und ein Regenbogen auf seinem Haupt und sein Antlitz wie die Sonne und seine Füße wie die Feuerpfeiler."

Dürers fast unbegrenzter Phantasie, die in der Apokalypse schon so viel Gewaltiges, Abnormes und Neues geschaffen hat, war hier der weiteste Spielraum geboten. Um den Text anschaulich zu machen, greift er zum größten Maßstab, er gibt der himmlischen Erscheinung nicht nur ein Kleid aus Wolkenkrausen, sondern läßt sie im Gestaltlosen der Himmelswolken zerfließen. Das Ganze wirkt wie ein entmaterialisiertes Wesen, man hat förmlich den Eindruck als ordne sich das Wolkengebilde in bestimmte Falten, um den Anschein eines imaginären Körpers zu erwecken.Ein ernstes Männerantlitz zeigt sich am Firmament, gewaltige Lichtstrahlen brechen in blendender Fülle am Halsansatz hervor, die ganze Länge dieses körperlosen Wesens überflutend. Ein kreisförmiger Regenbogen, in der Art eines großen, doppelreifigen Nimbus, umrahmt den Kopf. Daneben ragt aus den Wolken eine wie zum Schwur erhobene Hand hervor, die andere reicht auf die Erde hinab, das Buch der Geheimnisse haltend,das Johannes -der Aufforderung der Stimme folgend -in leidenschaftlicher Erregung zu verschlingen beginnt. Man sieht geradezu wie die einzelnen Wörter sich aus dem Buch lösen und in den Mund Johannes hineinfließen. Damit kommt sinnbildlich die göttliche Inspiration zum Ausdruck, die Johannes Kraft gibt, seine "Offenbarung" niederzuschreiben. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, schwebt über ihm ein Engel, der seine schützende Hand über Johannes
und die Felseninsel Patmos hält. Ein auf dem Wasser schwimmender Delphin und die beiden Schwäne sind Symbole für WeisheitReinheit und Entsagung. Die drei Finger der erhobenen Hand des Himmelswesensdeuten auf den im Kreis befindlichen Altar -ein Symbol für die Quadratur des Kreises-dieses Heiligtum wird von vier kleinen Engeln angebetet. Die drei Finger repräsentieren die heiligen Planeten, Saturn, Jupiter ud Venus, ihre Energien sind die beherrschenden Bildekräfte für das Äon. Die heiligen Zahlen sind drei, vier und sieben, die letzere bildet den bestimmenden Faktor, die Sieben istdas Symbol der" Zeit. Durch die Bedeutung dieser Zahlen erkennt man die menschlichen Lebensgrundlagen.
Wer sich nur einigermaßen in die Kompositionen Dürers vertieft und seine Augen auf diese optisch nur schwer wahrnehmbaren Dinge einstellt, wird erkennen, welcher Geist in seinen Bildern lebt. Daß er auch das Gestaltlose in den Naturerscheinungen beherrschte, und zwar so, daß sie sich in unserer Vorstellung unwillkürlich zu etwas Körperlichem verdichten, darin liegt das große Geheimnis seiner Kunst und die Bedeutung dessen, was wir aus dieser Darstellung für unseren Geist gewinnen. Hier zeigt sich, daß die Vielfalt seiner Ausdrucksmittel ihm die Möglichkeit gab, aus dem Übersinnlichen etwas Glaubhaftes zu machen.