Die sieben Posaunenengel

Schon auf den ersten Blick verblüfft dieses elementare Toben und die furchtbaren Schrecknisse, die nach der Öffnung des siebten Siegels über die Erde hereinbrechen.

Das siebte Siegel versinnbildlicht die Hülle des Lebensbuches, aus der die sieben Posaunen kommen. Es ist das große siebte Geheimnis der Schöpfung, das erste und letzte. Es kann nur in zeitgemäßer und gegenständlicher Form dargestellt werden. Nunmehr können wir den Sinn der sieben Siegel begreifen und verstehen, warum ihr Inhalt auf sechs Visionen zusammengedrängt ist, denn die siebte Siegelvision ist nicht die letzte, sie ist die erste. Jetzt beginnen die sieben Engel der Reihe nach zu posaunen.
Die Erde hat keinen Punkt mehr, wo Frieden herrscht. Dürer stellt diese Schreckensvision in allen Einzelheiten dar. Aus den Wolken stürzen Feuerzungen, Städte und Wälder brennen, zwei Riesenhände stoßen einen feuerspeienden Berg vom Himmel ins Meer hinab, Schiffe mit ihren Besatzungen versinken, und mit jedem neuen Tropetenstoß entsteht neues Unheil. Die unruhig flammende Sonne und der Mond mit den scharfen Lichtstrahlen verfinstern sich zu einem Drittel.
Die Sonne mit ihrem schmerzdurchfurchten Gesicht beobachtet das unheilvolle Geschehen. Ein großer sechsstrahliger Stern stürzt aus den Wolken und fällt mitten in einen Brunnen, so daß sein Wasser ungenießbar wird. Heuschrecken mit Menschengesichtern und Skorpionschwänzen kommen wie ein Regen auf die Erde hernieder.

Im Mittelalter war der "Brunnen der ewigen Gottheit" ein beliebtes heiliges Motiv. Einen besonders schönen Hinweis finden wir zu diesem Thema auf dem Genter Altar der Brüder van Eyck, auf seinem Mittelteil teilt sich der himmlische Quellbrunnen in sieben Strahlen, den sieben Gaben des heiligen Geistes. Dürer hat diesen mythologischen Gedanken symbolisch durch den viereckigen Brunnen dargestellt.
Für die sinnliche Darstellung bedeuten die aufeinanderfolgenden Ereignisse, wie sie in den Gedankenbildern des Textes zu sehen sind, eine große künstlerische Herausforderung. Dürer hat dazu seine ganze zeichnerische Kraft in Bewegung gesetzt, um das komplizierte Formenensemble der Naturerscheinungen schaubar zu machen. Es blieb ihm keine andere Wahl, als die in einem chaotischen Durcheinander auftretende Fülle abnormer Erscheinungen auf einen verhältnismäßig engen Raum zusammenzurücken. Dadurch können einzelne Ereignisse nicht auf den ersten Blick den nachhaltigen Eindruck erzeugen, wie sie es von Natur aus eigentlich sollten. Für die grandiose Leistung dieses Dürerblattes fand Heinrich Wölfflin die passenden Worte:

"...wenn man das Ganze übersieht, wie sich's drängt mit Hellem und Dunklem und mächtig durcheinanderfahrenden Linienschuß, so wird man doch gepackt und muß dem Blatt eine Stimmung ins Ungeheuerliche zugestehen."

In der Mitte des Bildes sieht man einen Adler vom Himmel zur Erde fliegen, er ruft mit lauter Stimme: "Wehe, wehe, wehe!" (denen, die auf Erden wohnen, vor den kommenden Posaunen) Der Adler ist ein Sinnbild für die göttliche Weisheit und ein Attribut des Evangelisten Johannes.

Das ganze Geschehen überblickend, steht in erhabener Würde Gottvater mit einem ins gigantische gesteigerten Nimbus und verteilt an die Engel die notwendigen Posaunen. Der Gedanke der Apokalypse ist der Gegensatz des gegenwärtigen und des kommenden Äons, der Übergang vom gegenwärtigen in den zukünftigen Zyklus, der durch sogenannte "messianische Wehen" eingeleitet werden soll.

Immer am Ende der Tage erwartet die Menschen eine neue Offenbarung, so knüpft sich der Anfang an das Ende. Diese Vorstellung beinhaltet die Worte Jesu: "Es wird sich ein Volk wider das andere empören und ein Königreich wider das andere, und es werden Erdbeben geschehen. das ist der Anfang der Wehen." (Markus 13/8)