Die Babylonische Buhlerin

Diese Vision wurde von Dürers schöpferischer Phantasie zu einem imposanten Naturschauspiel gestaltet und mit einigen bedeutungsvollen Details versehen. Dieses Blatt ist für uns deshalb von besonderem Interesse, weil es von mancher Seite als der Anfang seiner Offenbarung bertrachtet wird.

Ausgehend von der in Flammen und Rauch aufgehenden Stadt Babyion, auf die ein besonderer Akzent gelegt ist, bietet die, mit einer unvergleichlichen Wucht gegen den Himmel geschleuderte Rauch- und Aschenwolke ein so grandioses Schauspiel, daß man unwillkürlich an den Untergang von Sodom und Gomorrha erinnert wird.

Eine bedeutsame Ausdrucksparallele zu den emporgeschleuderten Rauchwolken zeigt sich auch in den wild auflodernden Feuerzungen hinter dem Rücken des siebenköpfigen Drachens. Dürer bringt hier eine Kompilation der verschiedensten Szenen, wie wir sie bereits in den einzelnen Visionen kennengelernt haben. Unsere Aufgabe besteht in erster Linie darin, das Primäre der Erscheinungen herauszufinden, und bei diesem "Vorläufer der Apokalypse" eine kritische Analyse zu beziehen. Das Geheimnis des Weibes und des scharlachroten Tieres sind Symbole des Kirchentums und seines seelenvergiftenden Aberglaubens sowie der heute entstellten zeremoniellen Magie des Altertums mit ihrer ritualisierten Gottesverehrung.

Für die realistische Darstellung des Weibes, welches mit Purpur und Scharlach bekleidet ist, benützt Dürer die Zeichnung einer schönen Venezianerin. Venedig galt zu seiner Zeit als eine Stadt des Reichtums und der Wollust; es war daher das geeignete Symbol für das -als wirkliche Buhlerin gedachte- päpstliche Rom.

Dürer läßt die Buhlerin von einem einzigen vor ihr knienden Mönch anbeten, während er in der Selbstdarstellung, unbeeindruckt, die Hände in den Hüften gestützt, die Erscheinung anblickt. Vermutlich wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß sich die weltliche Macht schützend vor das hinter ihr stehende Volk stellen soll - dargestellt durch die fürstlich gekleidete Person -Maximilian-, der das Zeichen der TRIADE sichtbar am Rücken trägt. Über der ganzen Erscheinung schwebt in den Wolken ein Engel, einen Mühlstein in den Händen haltend, als Symbol der Zeit. Der Mühlstein ist sinnbildlich der große Verwandler und Schicksalsbestimmer.

Der Künstler enthüllt das Urbild der Erscheinung, er zeigt das Göttliche in jedem Wesen und entreißt dadurch die Dinge dem "Mahlstrom" der Vergänglichkeit. In diesem Zusammenhang spricht man von einem verborgenen Symbolismus. Die Theologie des 15. und 16. Jahrhunderts konnte das Wesen vieler künstlerischen Dinge verstandesmäßig nicht erklären, dadurch entstand ein erkenntnistheoretisches Vakuum, mit einer nicht selten auf die Spitze getriebenen Symbolspekulation. Dürer kam in seinen Schriften zu der Einsicht, daß niemand aus eigenen Sinnen heraus ein vollendetes Bild schaffen kann. Jeder gibt wieder, was er vorher an Erkenntnissen aufgenommen und verarbeitet hat. Das, was sich im Sinn und Herz angesammelt hat, wird beim schöpferischen Vorgang mit der Kraft des eigenen Wissens, neu geformt hervorgebracht. Das produktive Vermögen ist abhängig von der geistigen Inspiration. Über die technische und künstlerische Bewältigung der Apokalypse sind Dürers Holzschnitte zugleich Anrufungen des Zeitgeistes und eine Lehrschrift für künftige Generationen, sie sind nicht visionär, sondern das Ergebnis harter Arbeit und unermüdlichen Lernens. Das, was sich dieser große Geist im Laufe seines Lebens erarbeitete, gab er kraft seines Sendungsbewußtseins in seinem künstlerischen Werk an die Menschheit weiter. In den Blättern der Apokalypse gab er wegweisend den Wahrheiten der geistigen Welt einen
irdischen"Gehalt.

Von allen' apokalyptischen Bildern fand die Darstellung der babylonischen Buhlerin den größten Anklang. Das Symbol fand in Luthers Bilderkampf in der deutschen Bibel die weiteste Verbreitung. In den Titeln seiner Schriften erschien dieses Bild und mit großer Eindringlichkeit wurde das Papsttum und die katholische Kirche im allgemeinen, von den protestantischen Predigern als das Symbol der babylonischen Buhlerin dem Volk vorgeführt.