Der Engel vom Euphrat

Die Darstellung der sechsten Posaunenvision und seine Wirkung ist neben den vier apokalyptischen Reitern die gewaltigste Konzeption Dürers "Geheimer Offenbarung".
Die zum gigantischen Vernichtungswerk aufgerufenen Engel lassen die Vorgänge in der Natur vollständig in den Hintergrund treten.

Das Blatt gliedert sich deutlich in drei Abschnitte. Erstens die Vorbereitung der Plagen, zweitens die Schilderung der Rosse und Reiter und drittens das furchtbare Geschehen auf der Erde. Oben erscheint Gottvater, umgeben von einer Glanzaureole, in den Händen die ersten vier Pösaunen haltend, während ein Engel den fünften Posaunenstoß auf die Erde richtet.

Ein weiterer Engel deutet auf die strömenden Winde, die aus den vier Ecken des Altars kommen, ein Symbol der kosmischen Kräfte und ihre Beziehung zum Karma. Aus den Wolken stürmt auf löwen-ähnlichen Tieren eine phantastische Reiterschar hervor und aus den Mäulern der Tiere schießt wilder Feueratem. Es soll uns veranschaulichen, welche schrecklichen Plagen die blinden Menschen in Zukunft zu erwarten haben. Dürer stellt die vier Schwerter schwingenden Euphratengel mit den Rücken gegeneinander dar, auf diese Weise bilden sie symbolisch ein Quadrat. Im esoterischen Sinne bilden die vier Ecken des Quadrats das Grundprinzip nicht nur der äußeren Erscheinung, sondern bringen dadurch auch das Wesen der Erscheinung zum Ausdruck. Geometrische Formen beziehen sich auf Ideen im Sinne von Bedeutungen, nach antiker Lehre ist die Geschichte der Menschheit eine Reise durch die vier Elemente.

Die Grundstruktur der kämpfenden Engel ist die gleiche wie die Maßbestimmung des Blattes der vier apokalyptischen Reiter. Die geometrische Konstruktion aus den Elementarfiguren von Vierheit, Dreieck und Kreis ist eine allgemeine Theorie für das von der Antike geforderte Begriffsfeld. Der Kampf der Engel versetzt die Vorgänge ins Zeitlose, das Emblem ist keine Illustration eines wirklichen Geschehens, sondern figuriert paradigmatisch und hat die gleiche Bedeutung wie die Worte. Erst Wort und Bild gemeinsam ermöglichen das Verstehen.

Johannes bezeichnet den Engelskampf als das kommende Harmagedon. Der Name ist ein Symbol für die Große Schlacht, die zwischen den Kräften des Lichts und der Finsternis in Zukunft stattfinden wird. In allen alten Prophezeiung wird der "Große Tag des Gottesgerichtes "vorausgesagt. Es ist die Schlacht zwischen dem eigenen inneren Christus und dem inneren Antichrist. Das Ego muß schweigen, damit die Vollendung des Gottessohnes eintreten kann.

Während alles Natürliche willig dem Zug der Schwere folgt, ist es nur wenigen gegeben, sich diesem Zug zu entziehen und sich in höhere Regionen zu erheben. Sämtliche geistigen Schriften verkünden das Nahen der Fristen.

Das apokalyptische Geschehen, das den Planeten reinigen soll ist nach dem Gesetz der Umwandlung unaufhaltsam. Wer über die
Bedeutung des Karma Bescheid weiß, erkennt, was bereits vor sich geht. Dürer hat das letzte Geschehen, den Engelkampf auf Erden, besonders dramatisch dargestellt. Um einen schreckenserregenden Eindruck zu erwecken, zeichnete er seine Engel mit düsteren, männlichen Gesichtszügen.

Es sind Männer - Engel, die diesen abstrakten, rücksichtslosen Kampf führen, in dem besonders zum Ausdruck kommt, daß gegen diese himmlischen Kräfte kein Widerstand möglich ist. Es sind in erster Linie die beim Volk so verhaßten weltlichen und kirchlichen Würdenträger, die diesem göttlichen Strafgericht nicht entgehen. Auf dem Bild sieht man im Vordergrund den am Boden liegenden Papst von einem Engel bedroht - als Sinnbild für den zukünftigen Untergang der Römischen Kirche.

Von konfessioneller Seite wurde dieses und auch andere Bilder Dürers als scharfe Polemik gegen Rom und als ausgesprochenen Affront gegen das Papsttum empfunden. Diese Gedanken lagen aber der Kunst Dürers nicht zugrunde, sie waren nur ein Ausdruck der Stimmung seiner Zeit. Der Bilderkampf in der deutschen Bibel begann erst mit der Verurteilung Luthers.